Der Spielmannszug gratuliert

Was für ein Auftritt! Mit großem Tschingderassabum gratuliert der Spielmannszug König Ludwig Raimund Schultenhöfer zum 80. Geburtstag. Und ich bin mittendrin. So passiert im Jahr 2016 in Recklinghausen-Süd. Und nun, zwei Jahre später, rolle ich mit meinem Fahrrad wieder zu dem Ort, um Raimund Schultenhöfer und seiner Frau Elsa die Zeitschrift bringen, in der ich über meine Reise und auch über die Geburtstagsfeier im Recklinghauser Süden berichtete habe. Schon von Weitem sehe ich Elsa Schultenhöfer, sie fegt Laub vor dem Haus. Ich freue mich, dass sie sich an mich erinnert, aber dann muss ich erfahren, dass ihr Mann im Januar plötzlich verstorben ist. Ich komme also zu spät.

Elsa Schultenhöfer bittet mich in ihr Gartenhäuschen. Es steht auf dem Hof, wo die Geburtstagsfeier ihres Mannes stattgefunden hat. Sie ruft ihren Sohn Martin hinzu. Der sympathische Mann trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck BEI RUCOLA FEHLT EIN M – Volltreffer! Er ist Rechtsanwalt und betreibt seine Kanzlei im Elternhaus, das früher über Jahrzehnte ein bedeutsames Gasthaus gewesen ist. 1905 wurde es im Jugendstil erbaut und 1910 von Raimund Schultenhöfers Großvater Casimir erworben. Er stammte aus Polen und hieß da noch Schulczewski. Die Eindeutschung polnischer Familiennamen war damals im Ruhrgebiet keine Seltenheit. Weil er neben Deutsch auch Polnisch, Russisch und Französisch sprach, betätigte er sich in Osteuropa als Werber für die Zechen in Recklinghausen und Umgebung. Die brauchten dringend Arbeitskräfte. Für jeden geworbenen Bergmann erhielt er eine Prämie, und weil er dabei so erfolgreich war, konnte er sich schließlich das Gasthaus kaufen. Sein Sohn Raimund erlernte zuerst das Konditoren-Handwerk, berichtet mir Elsa Schultenhöfer weiter, aber er half dabei schon in der Gastwirtschaft mit. Sie selbst stammt aus Suderwich, also nur wenige Kilometer entfernt. Ihre Eltern führten dort ein Textilfachgeschäft. 1961 lernte sie Raimund Schultenhöfer kennen. Als sie die Gastwirtschaft gemeinsam mit ihrem Mann vier Jahrzehnte lang führte, da war sie „Mädchen für alles“, wie sie es selbst beschreibt. Ich übersetze mir das so: Sie musste viele Talente haben und fleißig sein. Noch heute ist die herzliche Frau voller Energie. Zu meinem Glück sprudeln ihre Berichte über zahlreiche Erlebnisse nur so aus ihr heraus. Über den Boxverein, der sich hier traf und auf dem Hof seine Wettkämpfe austrug. Über den Kuckuck, den man damals hier noch hören konnte. Über die vielen Bergleute, die hier täglich einkehrten, aber ihre Deckel nur alle zwei Wochen bezahlten. Als einmal ein Bergmann verstarb, zahlten seine Kinder den noch offenen Deckel und erklärten ihr, dass das ja wohl selbstverständlich sei. Als die Schultenhöfers 2005 in den Ruhestand gingen und die Gastwirtschaft schlossen, behielten sie den wuchtigen Stammtisch. Noch heute steht er im Haus. Elsa Schultenhöfer zeigt ihn mir und sagt: „Daran wurden Häuser verkauft und Schweine verkauft.“ Ich kapiere: Der Tisch ist ein historisches Dokument.

Am Ende verrät sie mir die Quintessenz ihres langen Berufslebens. „Wirtsleute müssen sauber, ehrlich, fleißig sein.“ Und dann schenkt sie mir ein Bierglas aus ihrer alten Gaststube. Ich freue mich riesig, denn nun besitze auch ich ein historisches Dokument aus Recklinghausen.


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